Grauzonen im Ideenmanagement – und wie man sie klärt

Geschrieben von: Dr. Hartmut Neckel am: 06.12.2022

  • Themen: Abgrenzung von Vorschlägen zu Mängelhinweisen, Störungsmeldungen und Reparaturanforderungen; Standards im PDCA-Zyklus; Praxisbeispiele

Grauzonen sind oft Problemzonen, in denen unerquickliche Diskussionen gedeihen. Ob es darum geht, zwischen Verbesserungsvorschlägen und Mängelhinweisen zu unterscheiden, oder darum, was überhaupt im Rahmen des Ideenmanagements vorgeschlagen werden soll – in den meisten Unternehmen muss ein gemeinsames Verständnis über solche und ähnliche Fragen immer wieder neu erarbeitet werden. In diesem Blogbeitrag skizziere ich Anhaltspunkte, die beim Aufklären von Grauzonen hilfreich sein können, und erläutere sie anhand von einigen Praxisbeispielen.

Unterscheidungen, die einen Unterschied machen

Unternehmen sind darauf angewiesen, dass Mitarbeiter ihre Wahrnehmungen mitteilen – das gilt gleichermaßen für Hinweise auf Störungen und Mängel wie für Ideen zur Nutzung von Verbesserungspotentialen. Die meisten Unternehmen haben deshalb Kommunikationswege und -formate definiert, um solche Mitteilungen systematisch zu erfassen und zu kanalisieren.

  • Das Spektrum reicht von Briefkästen, in die man Hinweise auf Missstände oder Vorschläge für Verbesserungen einwerfen kann, über analoge oder digitale Formulare, mit denen Störungen gemeldet, Reparaturen angefordert oder Verbesserungen vorgeschlagen werden können, bis hin zu persönlichen Besprechungen, die als Shopfloor Meetings oder KVP Workshops einen institutionalisierten Rahmen für einschlägige Äußerungen und deren Dokumentation bieten.

Zum Auslöser von Diskussionen wird die Frage, ob es sich bei einer konkreten Mitteilung um einen Mängelhinweis oder um einen Verbesserungsvorschlag handelt, meist (nur) dann, wenn die Antwort prämienrelevant ist.

  • Üblicherweise herrscht das Verständnis vor, dass es Prämien ausschließlich für über die Arbeitsaufgabe hinausgehende Verbesserungsvorschläge geben soll.
  • Dagegen werden Hinweise auf Mängel und Störungen stets als Teil der Arbeitsaufgabe oder ganz generell als „Bürgertugend“ erwartet und sollen daher nicht prämiert werden.

Zur Unterscheidung zwischen einem Mängelhinweis und einem Verbesserungsvorschlag wird üblicherweise folgende Definition verwendet:

  • Ein Verbesserungsvorschlag zielt auf die Einführung eines neuen Soll-Zustands, der besser als der bisherige Soll-Zustand ist. Synonym zum Begriff „Soll-Zustand“ lassen sich auch die Begriffe „Standard“ oder „Norm“ verwenden. Auch die erstmalige Einführung eines Soll-Zustands fällt in diese Kategorie (wenn bislang gar nicht geregelt war, wie es sein „soll“).
  • Bei Störungsmeldungen, Mängelhinweise oder Reparaturanforderungen geht es darum, einen bereits bekannten Soll-Zustand wiederherzustellen – die Mitteilung besteht im wesentlichen aus der Aussage, dass der Ist-Zustand vom Soll-Zustand abweicht (meist zum Schlechteren).

Dieser Unterschied ist in Abbildung 1 veranschaulicht.

Blog 69 1 Standard 2022 12 06

Abbildung 1: Verbesserungsvorschläge zielen auf eine Erhöhung des Standards; Mängelhinweise zielen darauf, bei Abweichungen den bereits definierten Standard wiederherzustellen.

Damit wäre es kein (prämienberechtigter) Verbesserungsvorschlag, die Reparatur eines defekten Geräts anzuregen oder anzufordern, während eine Idee für eine bisher nicht vorgesehene Maßnahme, mit der einer Wiederholung des Defekts entgegengewirkt wird, als (prämienberechtigter) Verbesserungsvorschlag anzusehen wäre.

Für die Fälle in den Grauzonen können noch folgende Prüfkriterien hilfreich sein:

  • Was würde man einem neuen Mitarbeiter oder einer Urlaubsvertretung sagen, wie es sein „soll“? Das, was man ihm oder ihr erklären würde, ist der aktuelle „Soll-Zustand“ (Standard).
  • Gibt es überhaupt etwas zu entscheiden? Bei einem Mängelhinweis muss nicht entschieden werden, ob der Mangel beseitigt, die Störung behoben, der Defekt repariert, der Soll-Zustand wiederhergestellt werden soll – es geht lediglich um die organisatorische Frage, wann und mit welcher Priorität wer das tut (wenn dies nicht mehr geschieht, wird es Zeit, sich nach einem anderen Arbeitgeber umzusehen…). Bei einem Verbesserungsvorschlag muss sehr wohl abgewogen werden, ob er umgesetzt werden soll – und wie der Kennzahlenvergleich Ideenmanagement seit 2018 jährlich zeigt, führt das bei rund der Hälfte der vorgeschlagenen Ideen zu einer ablehnenden Entscheidung.

 

Anwendung auf drei Praxisbeispiele

Mit diesem Rüstzeug können wir nun drei Beispiele betrachten:

Beispiel 1: Seit Jahren haben zwei Mitarbeiter täglich 25 Minuten lang aus ausgedruckten Rechnungen jenes Drittel heraussortiert, das tatsächlich an Kunden geschickt wurde, und die restlichen zwei Drittel vernichtet. Ein Mitarbeiter schlug nun vor, die nicht benötigten Rechnungen erst gar nicht auszudrucken, sondern elektronisch zu archivieren.

Hier wurde argumentiert, das sei kein Verbesserungsvorschlag, da die bisherige Praxis eindeutig misslich sei. Doch das erste der oben zusätzlich aufgeführten Prüfkriterien führte zur Erkenntnis: Einer Urlaubsvertretung hätte man erklärt, genau so zu verfahren.

Dass ein Standard schlecht ist (bzw. mit der Zeit seine Berechtigung verloren und sich zum Missstand gewandelt hat), ändert nichts daran, dass es sich um den (noch) gültigen Standard handelt. Hinterher ist man immer schlauer – die „Leistung“ der Einreicher von Verbesserungsvorschlägen besteht ja auch darin, auf Ideen jenseits der eingefahrenen Gewohnheiten zu kommen.

Beispiel 2: Nach einer Änderung im EDV-System wurden knapp zwei Jahre lang für bestimmte Leistungen keine Rechnungen geschrieben, und dementsprechend weniger Umsatz generiert. Nachdem einem Mitarbeiter der Fehler im System aufgefallen war, hat er analysiert, wie viele Fälle betroffen sind und wie hoch der Schaden für das Unternehmen ist. Anschließend hat er geprüft, in welchem Maß der Schaden noch verringert werden kann. Basierend auf seiner Analyse hat der Mitarbeiter einen Vorschlag zur Prozessverbesserung gemacht, um den Fehler zu beheben.

Hier wurde argumentiert, das sei kein Verbesserungsvorschlag, da es sich eindeutig um einen Fehler handelt. Der fehlerhafte Zustand sei zwar in die EDV eingebaut worden – aber versehentlich und nicht als Standard. Für jeden Mitarbeiter müsse klar sein, dass es ein Fehler ist, wenn für abrechenbare Leistungen keine Rechnungen geschrieben werden. Dieser Argumentation schließe ich mich an.

Beispiel 3: Ein Mitarbeiter schlug vor, für ein zur eigenen Stromerzeugung benötigtes Aggregat ständig ein Ersatzgerät auf Lager zu halten. Falls das Aggregat kaputt geht, müsste bis zur Lieferung eines neuen Geräts teurer Strom eingekauft werden. Angesichts der derzeitigen Lieferzeiten und Strompreise würde das mehrere Tausend Euro teurer als der Kauf eines Ersatzgeräts.

Hier wurde argumentiert, das sei kein Verbesserungsvorschlag, da ja auf ein „Fehlen“ eines Ersatzgeräts hingewiesen wurde. Außerdem könnten dann ja für Alles und Jedes vorgeschlagen werden, Ersatz vorzuhalten. Die Anwendung der oben formulierten Definition führte zur Erkenntnis: Es gab keinen Standard, ob für das Aggregat Ersatz vorgehalten werden soll – es war schlichtweg nicht geregelt. Die Bevorratung zu regeln (als Standard zu etablieren), ist also ein Verbesserungsvorschlag.

Das zweite der oben zusätzlich aufgeführten Prüfkriterien zeigt zudem, dass hier eine Entscheidung getroffen werden muss: Ersatzgerät kaufen oder nicht. Es kann ja gute Gründe dafür geben, es nicht zu tun – etwa, dass das Aggregat maximal alle zehn Jahre kaputt ging, so dass das Risiko die Kapitalbindung und den Platzverbrauch für ein Ersatzgerät bei weitem nicht lohnt. Unabhängig davon, ob die Entscheidung positiv oder negativ ausfällt: Es handelt sich um einen Verbesserungsvorschlag.

 

Wissensmanagement als Gemeinschaftsaufgabe

Auf Wahrnehmungen und Mitteilungen von Mitarbeitern angewiesen zu sein, hatte ich eingangs als Gemeinsamkeit von Mängelhinweisen und Verbesserungsvorschlägen erwähnt. Was Mitarbeiter in ihren Köpfen haben, ohne es auszusprechen oder in Handlungen umzusetzen, nützt dem Unternehmen nichts.

Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass es dem Unternehmen im Sinne einer „lernenden Organisation“ auch wenig nützt, wenn Störungen lediglich beseitigt oder Verbesserungsmaßnahmen nur umgesetzt, aber nicht systematisch dokumentiert werden.

  • In vielen Unternehmen ist es daher eine Selbstverständlichkeit, den Lebenslauf von Maschinen und Werkzeugen mit allen Störungen, Reparaturen und verbessernden Änderungen sorgfältig zu dokumentieren, um jederzeit nachvollziehen zu können, wann welcher Eingriff warum und mit welchem Ergebnis getätigt wurde. Nur so wird auch ermöglicht, Muster in Störungen zu erkennen und daraus systematische Optimierungsprojekte abzuleiten.
  • Da Verbesserungsvorschläge (anders als Mängelhinweise) stets auf eine Änderung des Standards zielen, ist eine Verbesserung erst dann „wirklich“ umgesetzt, wenn der verbesserte Zustand als Standard fixiert wurde. Das Bewusstsein für diese Bedeutung von Standards (als Bezugsgrößen für Abweichungen und Verbesserungen) hat sich vor allem mit dem Aufkommen des Total Quality Managements und des PDCA-Zyklus als Rahmenvorstellung für kontinuierliche Verbesserungen entwickelt.
  • Wenn dagegen ein Mitarbeiter eine Verbesserung „einfach so direkt umsetzt“, kann sie erstens jederzeit wieder rückgängig gemacht werden und zweitens kann das Wissen um sie wieder verlorengehen (etwa, wenn der Mitarbeiter das Unternehmen verlässt).
  • „Neues Wissen, das zunächst als Idee eines einzelnen Mitarbeiter entsteht, kann zum Allgemeinwissen der Organisation werden, wenn die Idee als Vorschlag eingereicht und wenn die bewirkte Verbesserung als neuer Standard (für alle Mitarbeiter) bekannt gemacht und eingeführt wird. Insofern trägt das Ideenmanagement im Verlauf des PDCA-Zyklus unmittelbar zu einer Umwandlung von organisationalem Wissen und damit zu organisationalem Lernen bei.“ (Aus dem Exkurs zur „Lernenden Organisation“ in den „Modellen des Ideenmanagements“, Klett-Cotta, Seiten 53 ff.)

Wie wertvoll das im „Gedächtnis der Organisation“ gespeicherte Wissen werden kann, erleben derzeit viele Unternehmen, indem sie die in früheren Jahren abgelehnten Vorschläge für Energieeinsparungen erneut daraufhin überprüfen, ob sie sich unter den neuen Umständen nicht doch lohnen …

Fazit: Gemeinsamkeiten von Mängelhinweisen und Verbesserungsvorschlägen liegen u.a. in ihrer Bedeutung für das „Wissensmanagement“ im Sinne einer „Lernenden Organisation“. Fehlermanagement, Vorbeugemanagement und Verbesserungsmanagement gehen hier Hand in Hand. Unterschiede bestehen u.a. in den Anforderungen an das „Entscheidungsmanagement“ und der Funktion als „Anerkennungsmanagement“ für Verbesserungsvorschläge (siehe auch den Blogbeitrag „»Neues Ideenmanagement« in der »neuen Arbeitswelt«“).

 

Die Einhaltung von Standards ist die eine Sache, ihre Verbesserung eine andere. Beides ist für den Fortbestand von Unternehmen unerlässlich.

 

Ein nach Stichworten sortiertes Verzeichnis mit Links auf alle bisher erschienenen Beiträge im Blog zum Ideenmanagement finden Sie in diesem Register.

 

Alle Erwähnungen von Unternehmen und Produkten sind redaktioneller Natur und wurden nicht bezahlt.

Dr. Hartmut Neckel

Dr. Hartmut Neckel

Zum Autor: Dr. Hartmut Neckel ist einer der profiliertesten Vordenker und erfahrensten Praktiker im Themenbereich Ideenmanagement, Innovation und kontinuierliche Verbesserungsprozesse. >> Mehr

Kontakt: kontakt@hartmut-neckel.de